Konzept, Prinzipien und Kontext im Historischen Fechten

Zum Konzept einer Kampfkunst

In der ersten Zeit meiner elfjährigen Laufbahn als Historischer Fechter ging es vor allem um folgende Fragen: Was steht da eigentlich auf dem Blatt? Wie genau sieht diese Bewegung aus? Wie könnte die Technik funktionieren?

Meine Gruppe und ich haben erleuchtende Antworten auf diese Fragen gefunden und zwar immer wieder aufs Neue. Zuerst war das kein Problem für mich, doch mit der Zeit bin ich stutzig geworden. Denn etwas Wichtiges fehlte, um zu überprüfen, ob der Fortschritt überhaupt noch in die richtige Richtung ging: Das große Bild der Kampfkunst, die Leitidee des Bewegungssystems oder kurz gesagt: das umfassende Konzept.Wer über viele Jahre dieselbe Tätigkeit ausübt, optimiert diese Tätigkeit. Das ist nichts Ungewöhnliches, vor allem nicht in den Kampfkünsten.

Selbst bei den einfachsten Techniken, lautet das Motto: “Lernen und überlernen”. Der Trainierende muss das Bewegungsmuster einer Technik im Groben verstanden haben, bevor die relevanten Details ausgearbeitet werden können. Der vorrausgehende Satz setzt allerdings eine wichtige gedankliche Leistung voraus: der Trainierende oder der Lehrer des Trainierenden muss ein umfassendes Konzept von dem System erarbeitet haben, dem die Technik zugeordnet wird. Sollte kein Konzept vorhanden sein, wird eine Gewichtung der Details oder die Ausarbeitung einer Handlungshierarchie unmöglich. Unmöglich deshalb, weil ohne das Konzept keine Evaluierung der eigenen Fortschritte möglich ist. Wie soll die Korrektheit eines Bewegungsmusters bestimmt werden, wenn der Kontext der Handlung und somit die Rahmenbedingungen nicht festgelegt worden sind? So entsteht das Hamsterrad der ständigen neuen „bahnbrechenden“ Erkenntnisse und Entdeckungen von „noch besseren Interpretationen“. Die Technik wird immer besser, entfremdet sich jedoch immer weiter von der zugrunde liegenden Quelle und/ oder wird kaum im Freikampf oder im Turnier umgesetzt. Dem Verdruss, der Erschöpfung und dem Identitätsverlust als Historischer Fechter sind alle Türen geöffnet. Dieser Trend ist meistens ein schleichender Prozess, der die Fechtenden meist selbst überrascht, wenn sie irgendwann wieder aus dem Hamsterrad fallen. Die Gründe für diesen entfremdenden Fortschritt sind verschieden. Zwei der Wichtigsten sind wohl die Übergewichtung eines Prinzips und die Herausbildung neuer Kontexte.

Zu den Prinzipien

Kampfkunst basiert auf einer Reihe von Prinzipien, deren Gewichtung allerdings variabel ist und von den beteiligten Kämpfern, der Situation und weiteren Aspekten abhängig ist. Zum Lernen gehört zwangsläufig die Fokussierung auf ganz bestimmte Inhalte, meistens jene Aspekte, die den Fechtenden am meisten Probleme bereiten, beispielsweise Kraft, Schnelligkeit, mentale Festigkeit oder Mensurgefühl. Jeder, der seine Fortschritte im Fechten dokumentiert, wird über die Jahre die Existenz von „großen Themen“ in seiner Trainingsbiografie feststellen. Eine bestimmte Zeit werden sich das Training und auch der Freikampf hauptsächlich auf dieses Thema beschränken und auch die Gespräche mit anderen Fechtern und Trainern drehen sich darum. Ein übergewichtetes Prinzip ist das Ergebnis eines großen Themas, das sich festgefressen hat. Das zugrunde liegende Prinzip wird zum Leitprinzip erhoben und dominiert das gesamte System. Als Beispiel soll die Mensur dienen. Es gibt Fechter, die die Maximierung der Reichweite zum absoluten Prinzip erhoben haben und ihr gesamtes System darauf ausgerichtet haben. Zwangsläufig setzt eine Optimierung der Bewegungsmuster zugunsten einer erhöhten Reichweite ein, wobei jedoch andere Aspekte auf der Strecke bleiben. Am Ende dieses schleichenden Optimierungsprozesses stehen Langschwertfechtende, die stark vorgelehnt, mit weiter Beinarbeit und gestreckten Armen nach den Blößen des Gegners angeln und damit zwei der Grundprinzipien des Langschwertfechtens nach Liechtenauer verletzen: Fechte nicht mit gestreckten Armen und achte auf eine kleine Beinarbeit. [1]

Zu den Kontexten im Historischen Fechten

Weitaus problematischer ist jedoch die Bildung neuer Kontexte für das Training der Historischen Kampfkünste. Dieser Prozess macht die Übergewichtung von Prinzipien überhaupt erst möglich. Für viele von uns ist das reguläre Training in einer Trainingshalle mit Schutzausrüstung, Verletzungsvermeidung und bekannten Partnern der Standard. Hinzu kommt noch, dass im Training in der Regel zu großer Stress vermieden wird. Die einzige Referenz an die ursprünglichen Kontexte unserer Kampfsysteme sind in der Regel abstrakte Sätze wie: „Ihr müsst immer daran denken, wofür diese Systeme gemacht worden sind. Zur Anwendung in einem Kampf auf Leben und Tod oder für eine Fechtschule, wo ihr nahezu ohne Schutzausrüstung kämpft und Platzwunden Prämien bedeuten.“ Ich habe diese Sätze gerne verwendet und weder mir noch meiner Gruppe haben sie etwas gebracht. Zumindest, bis ich mich mit den Konsequenzen dieser Kontexte auseinander gesetzt habe.

  • Was passiert mit dem menschlichen Körper unter Stress?
  • Was passiert mit der Psyche?
  • Was sind die Primärziele meiner Angriffs- und Verteidigungshandlungen, wenn ich gegen einen unbekannten Gegner mit einem scharfen Schwert in einem unberechenbaren Areal kämpfe?
  • Wie verändert sich der Kampf, wenn ich nicht von außen mit regulierenden Maßnahmen wie Gewichtsklassen, genormten Schwertlängen und massiver Schutzausrüstung eingreife?
  • Wie verändert sich dann die Gewichtung der Prinzipien?

Antwort auf diese Fragen würde diesen Text sprengen. Aber so viel möchte ich sagen, sie haben für mich als Trainer und Trainierender alles geändert: Technik- und Prinzipienverständnis, Trainingsmethoden und Freikampfevaluierung. Die Fragen und mit ihr verbundenen Antworten führten bei mir zu neuen Perspektiven, auch wenn es um die Interpretation der Quellen ging. Ich möchte hier nicht zu viel über meine Antworten sprechen, sondern die Frage an die Leser dieses Textes weitergeben:

Was ist euer (Bewegungs-)Konzept und worauf basiert es?

Denkt darüber nach, schreibt es auf, dreht ein Video oder tragt es als Diskussionsthema auf die Events, zu Workshops und Seminaren. Alle werden davon profitieren.

Autor: Thore Wilkens M.A., Vizepräsident Bildung des DDHF

[1] Vgl. Hs. 3227a: fol. 15v u. 40r.